«Der Funke springt bei allen über»: Wie gezielte Bewegung die Lebensqualität verbessert
Am Zentrum für Integrative Onkologie in Winterthur können Patientinnen und Patienten eine individuell auf sie zugeschnittene Bewegungstherapie in Anspruch nehmen: die Onkologische Trainings- und Bewegungstherapie OTT. Das Training hilft, die Lebensqualität zu verbessern und verschiedene Symptome zu lindern. Der Onkologe Dirk Scharr und der speziell ausgebildete Physiotherapeut Moritz Rose erklären im Interview, worum es dabei geht und wie die Therapie abläuft.
Die zertifizierte Onkologische Trainings- und Bewegungstherapie OTT ist relativ neu. In der Schweiz wird sie bisher erst im ZIO Winterthur angeboten. Was ist das Ziel dieser Therapieform?
Dirk Scharr: Es geht in erster Linie darum, die Lebensqualität von Krebspatient:innen zu verbessern. Auch in Phasen der Krankheit können Bewegung und Sport sehr viel zum Wohlbefinden beitragen, das wird in klinischen Studien immer deutlicher. In der Reha wird das bekanntlich schon lange gezielt eingesetzt. Die OTT setzt nun schon viel eher an, nämlich parallel zu anderen onkologischen Therapien, oft direkt nach der Diagnosestellung. Viele Symptome, die die Krebskrankheit auslösen oder Nebenwirkungen der onkologischen Therapien können reduziert oder sogar verhindert werden, wenn die Patient:innen ein individuell auf sie zugeschnittenes Trainingsprogramm erhalten, das sie in enger therapeutischer Begleitung absolvieren. Dazu braucht es speziell ausgebildete Physiotherapeut:innen wie Moritz Rose.
Moritz Rose: Wir arbeiten da sehr eng zusammen. Erst nachdem Dirk Scharr und sein Team mit den Patient:innen ein erstes medizinisches Assessment durchgeführt haben, kommen diese zu uns in die OTT. Wir führen dann ebenfalls zuerst verschiedene Tests durch, damit wir sehen können, wie aktuell die Ausdauer, die muskuläre Fähigkeit und die Sensomotorik bei den jeweiligen Personen ist. Erst danach entwickeln wir ein Therapieprogramm und definieren die Ziele. Und zwar gemeinsam mit dem Patienten oder der Patientin.
Für wen eignet sich denn die Onkologische Trainingstherapie?
Scharr: Prinzipiell kann jeder Mensch mit einer onkologischen Erkrankung von der OTT profitieren. Es gibt wenige Behandlungssituationen, in denen die OTT nicht begonnen werden kann oder pausiert werden sollte. Beispielsweise wenn bestimmte Blutwerte Grenzen unterschreiten oder natürlich bei einem Infekt oder direkt nach einer Operation. Auch direkt nach einer Chemotherapie wartet man einige Tage, bevor man gezielt Bewegungstherapie macht. Das alles wird berücksichtigt und darum sind auch das medizinische Assessment sowie die kontinuierliche medizinische Begleitung wichtig.
«Auch in Phasen der Krankheit kann Bewegung und Sport sehr viel zum Wohlbefinden beitragen.»
Dr. med. Dirk Scharr
Welche Symptome können konkret gelindert werden?
Scharr: Das sind viele. Gute Belege durch wissenschaftliche Arbeiten für die positive Wirkung der OTT haben wir bei Angstzuständen, depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen und auch für das chronische Müdigkeits-Syndrom (Fatigue), das im Verlauf einer onkologischen Erkrankung und Therapie sehr häufig auftreten kann. Positive Effekte gibt es zudem in Bezug auf Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit. Aber auch spezifische Probleme wie Inkontinenz oder Lymphödeme können mit der OTT behandelt werden. Ob die Wirksamkeit onkologischer Massnahmen wie Strahlentherapie oder Chemotherapie durch Bewegung verbessert werden kann, dazu werden wir künftig aus verschiedenen Studien noch mehr erfahren.
Rose: Mich beeindruckt, welche positiven Erlebnisse wir machen mit Patient:innen, die unter einer Fatigue leiden. Diese ausserordentliche Müdigkeit kann die Lebensqualität enorm vermindern. Wenn wir hier vorsichtig mit Bewegungstherapie arbeiten, sehen wir oft erstaunliche Effekte. Gerade heute hatte ich einen Patienten, der mich mit den Worten begrüsste, so gut habe er sich schon ewig nicht mehr gefühlt. Da hatte er erst eine Sitzung hinter sich.
Wie oft wird denn trainiert und wie lange dauert so eine Therapie üblicherweise?
Rose: Die Therapie beinhaltet zwei Mal pro Woche je eine Stunde Training, über drei Monate hinweg. In dieser Zeit gibt es immer wieder Zwischenetappen. Wir besprechen gemeinsam, welche Ziele erreicht wurden und wie die Therapie im weiteren Verlauf allenfalls angepasst werden soll.
Viele Krebsbetroffene können sich kaum vorstellen, Sport zu treiben oder haben Angst, dass sie sich damit schaden könnten. Wie begegnen Sie solchen Vorbehalten?
Rose: Das Wichtigste ist hier sicher einmal das medizinische Assessment. Die behandelnden Ärzt:innen sagen damit: Du darfst, du kannst das. Das gibt den Betroffenen schon einmal Sicherheit. Und dann gehen wir natürlich sehr behutsam vor und auf jeden Menschen spezifisch ein. Wir starten mit individuell angemessener Belastung. Ich beobachte, dass viele Patient:inen sozusagen lernen müssen, sich wieder anzustrengen. Wir wollen sie natürlich fordern, aber auf keinen Fall in eine Überbelastung führen. Das ist auch für die Patient:innen selbst gar nicht so leicht. Denn es fällt einem schwer, zu akzeptieren, dass die eigenen Grenzen sich so stark verschoben haben mit der Erkrankung. Darum braucht es diese enge Begleitung.
Scharr: Die Sicherheit ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb wir diese zertifizierte Therapieform hier bei uns im ZIO anbieten und durchführen. Sie soll in einer medizinischen Einrichtung stattfinden, damit die Patient:innen die Sicherheit haben, dass immer medizinische Fachpersonen in Reichweite sind. Die Planung und Durchführung des Trainings ist an die individuelle Situation und Leistungsfähigkeit angepasst und wird therapeutisch begleitet.
«Es beeindruckt mich, wie die Patient:innen dranbleiben und zweimal pro Woche herkommen zum Trainieren. Ich denke, das zeigt, wie gut ihnen das Training tut.»
Moritz Rose, zertifizierter OTT-Therapeut
Welche Erfahrungen machen Sie bisher mit der OTT in Winterthur?
Scharr: Der Funke springt bei allen über. Es ist bemerkenswert: Wenn die Menschen aus der OTT kommen, sind sie oft richtig gut gelaunt. Das überträgt sich auf ihr Umfeld und auf uns Behandelnde. Das entscheidende Stichwort ist hierbei «Selbstwirksamkeit»: Die Patient:innen nehmen einen aktiven Part in ihrer Behandlung ein, sie können den weiteren Verlauf selbst beeinflussen.
Rose: Ja, das empfinde ich auch so. Die meisten sind enorm motiviert und trotz der insgesamt unglaublichen Belastung, die Krebskranke erfahren, erlebe ich sie in der Trainingstherapie als gut gelaunt und zufrieden. Es beeindruckt mich, wie sehr die meisten dranbleiben und zweimal pro Woche herkommen zum Trainieren. Ich denke, das macht man gerade unter solchen Umständen nur, wenn es einem wirklich guttut.
Dr. med. Dirk Scharr
Facharzt für Hämatologie und Onkologie, Standort-Verantwortlicher ZIO Winterthur
Moritz Rose
Dip. Physiotherapeut und zertifizierter Therapeut für die Onkologische Trainings- und Bewegungstherapie OTT (Uniklinik Köln)